Ermittlungspflicht des Nachlassgerichts

Wie genau darf's sein?

Veröffentlicht am: 13.07.2021
Qualifikation: Rechtsanwalt und Mediator
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Wie genau darf's sein?

Das nachlassgerichtliche Verfahren ist für alle Beteiligten mitunter eher undurchsichtig als transparent. Gemäß §§ 26 und 29 FamFG muss das Nachlassgericht von Amts wegen der entscheidungserheblichen Tatsachen feststellen und selbst ermitteln und die dafür erforderlichen Beweise „in geeigneter Form“ erheben. Verstößt das Gericht gegen diese Amtsermittlungspflicht, kann ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliegen. Insbesondere dann, wenn die Testierfähigkeit des Erblassers oder der Erblasserin zwischen den Verfahrensbeteiligten streitig ist, bestehen in der Praxis einerseits erhebliche Unsicherheiten, welche Tatsachen und Anknüpfungspunkte dem Gericht zur Vornahme geeigneter eigener Ermittlungen mitgeteilt werden müssen. Andererseits ist nicht immer klar, mit welcher Ermittlungstiefe und insbesondere mit welchen Beweismitteln das Nachlassgericht Anhaltspunkten insbesondere für eine im Zeitpunkt der Testamentserrichtung bestehende Testierunfähigkeit nachgehen muss. Zu diesen Fragestellungen nimmt das Kammergericht in einem Beschluss für die Praxis hilfreiche Klarstellungen vor (Kammergericht Berlin, Beschluss vom 29.05.2020 19 W 4/20).

Ausgangspunkt: Voraussetzungen der Testierunfähigkeit

Eine Erblasserin oder ein Erblasser ist dann testierunfähig, wenn sie oder er im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments aufgrund einer irgendwie gearteten psychischen Erkrankung nicht in der Lage war, sich über die Tragweite ihrer oder seiner letztwilligen Anordnungen und deren Auswirkungen auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der von dem Testament Betroffenen sowie über die Gründe, die für und gegen die sittliche Berechtigung der jeweiligen letztwilligen Verfügung sprechen, ein klares Urteil zu bilden und nach diesem selbst gebildeten Urteil frei von Einflüssen etwaig interessierter Dritter zu handeln.

Ausgehend von diesem klaren rechtlichen Befund liegen in der Praxis in aller Regel lediglich Indizien für eine möglicherweise bestehende Testierunfähigkeit vor. In den seltensten Fällen wurde zu Lebzeiten und in zeitlicher Nähe zum Datum der Testamentserrichtung ein psychiatrisches Gutachten über die jeweilige psychische Disposition der Erblasserin oder des Erblassers angefertigt, aus dem sich zweifelsfrei Schlüsse auf die Testierfähigkeit ergeben. Möglicherweise liegt in der Praxis ein psychiatrisches Gutachten vor, dass im Zusammenhang mit einem Betreuungsverfahren erstellt wurde, unter Umständen existieren Berichte des medizinischen Dienstes der Krankenkassen, die im Zusammenhang mit der Feststellung einer Pflegestufe oder eines Pflegegrades erstellt wurden, möglicherweise geben Arztberichte oder sonstige Äußerungen medizinisch geschulter Personen (Krankenhausberichte, Pflegedokumentationen) Aufschluss über die psychische Situation der Erblasserin oder des Erblassers. Unter Umständen liegen auch Äußerungen von Verwandten, Freunden, Nachbarn und sonstigen medizinisch nicht geschulten Personen aus dem näheren Bereich der Erblasserin oder des Erblassers vor.

Jeder Hinweis zählt

Liegt nach Auffassung eines Verfahrensbeteiligten Testierunfähigkeit vor, müssen dem Nachlassgericht zunächst alle Anknüpfungstatsachen mitgeteilt werden, aus denen sich ausreichend starke Anhaltspunkte für die Testierunfähigkeit der Erblasserin oder des Erblassers ergeben. Hierzu bedarf es in der Praxis regelmäßig mindestens eines medizinischen Gutachtens, das idealerweise noch zu Lebzeiten der Erblasserin oder des Erblassers erstellt wurde, und aus den sich Hinweise auf kognitive oder sonstige psychische Beeinträchtigungen ergeben. Liegen entsprechende Dokumente vor, ist das Nachlassgericht in aller Regel gemäß § 30 Abs. 3 FamFG gehalten, in die förmliche Beweisaufnahme über die Tatsache der Testierunfähigkeit einzutreten. Das Kammergericht (Beschluss vom 29.05.2020, 19 W 4/20) stellt klar, dass ein gesondert vom Gericht einzuholendes psychiatrisches Gutachten über die Frage der Testierunfähigkeit der Erblasserin oder des Erblassers insbesondere dann erforderlich ist, wenn sich aus den vorhandenen Dokumentationen und sonstigen erreichbaren Beweismittel kein ausreichend sicherer Schluss darauf ziehen lässt, dass eine zur Annahme der Testierunfähigkeit bereits ausreichende schwere psychische Beeinträchtigung auch dauerhaft und insbesondere im Zeitpunkt der Testamentserrichtung bestand.

Beweiserhebung: Der notwendige Rückschluss auf den Zeitpunkt der Testamentserrichtung

In der Praxis liegen in aller Regel keine ausreichend klare kommentierte und medizinisch relevanten Äußerungen vor, die Aufschluss über die psychische Situation der Erblasserin oder des Erblassers am Tag der Testamentserrichtung geben. Gutachten oder sonstige medizinische Dokumentationen können davor oder danach gestellt worden sein, unter Umständen wird in den Inhalten der entsprechenden Dokumentationen Bezug genommen auf weiter zurückliegende Zeiträume. Üblicherweise ist die Dokumentationslage für den Zeitpunkt der Testamentserrichtung also unklar. Um eine vor der Testamentserrichtung festgestellte oder entsprechend zeitlich rückbezüglich angenommene psychische Beeinträchtigung der Erblasserin oder des Erblassers auf den Tag der Testamentserrichtung beziehen zu können, muss klar sein, dass die psychische Beeinträchtigung dauerhaft und auch gleich stark bestanden haben muss. Im Fall einer diagnostizierten Alzheimerdemenz wird mittlerweile medizinisch gesichert davon ausgegangen, dass diese Erkrankung chronisch progredient ist, also keine zwischenzeitliche Verbesserung des Zustandes eintreten kann. Bei anderen psychischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen kann dies anders sein. Auch in diesem Zusammenhang stellt das Kammergericht in dem vorbezeichneten Beschluss klar, dass die Ermittlungen des Nachlassgerichts sich auch auf entsprechende Feststellungen -Dauerhaftigkeit der Erkrankung- beziehen müssen.

Will man also im Rahmen eines nachlassgerichtlichen Verfahren oder auch im Rahmen einer Erbenfeststellungsklage vor dem ständigen ordentlichen Gericht die Unwirksamkeit eines Testaments oder einer sonstigen letztwilligen Verfügung aufgrund der Testierunfähigkeit der Erblasserin oder des Erblassers im Zeitpunkt der Testamentserrichtung geltend machen, bedarf es im Hinblick auf den soweit notwendigen Sachvortrag, die Schilderung der entsprechenden Tatsachen und zur Formulierung entsprechend erforderlicher Beweisangebote und Beweisanregungen praktischer Erfahrung und Expertise. Hinweise von Personen aus dem Nähe-Bereich der Erblasserin oder des Erblassers auf eine wohl zunehmende Verwirrtheit der betroffenen Person reichen definitiv nicht aus, auch zu Lebzeiten der Erblasserin oder des Erblassers erstellte Gutachten und Dokumentationen können bisweilen die Annahme der Testierunfähigkeit nicht tragen.

Unsere Experten im Erbrecht stehen Ihnen an unseren bundesweiten Standorten gern zur Überprüfung der Nachweislage bei angenommener Testierunfähigkeit gern zur Verfügung.