Prospekthaftung beim ICO nach Envion
Neue Entwicklungen und offene Fragen
Der Envion-Skandal hat die rechtlichen Risiken von Initial Coin Offerings (ICOs) deutlich gemacht. Die neue EU-Regulierung in Form von MiCAR und jüngere Gerichtsentscheidungen lassen diese in rechtlich neuem Licht erscheinen.
Der Envion-Skandal hat die rechtlichen Herausforderungen bei der Aufarbeitung von betrügerischen Initial Coin Offerings (ICOs) deutlich gemacht. Bei ICOs handelt es sich um eine Form der Kapitalbeschaffung, bei der Unternehmen – oft Start-ups aus der Technologie-Szene – digitale Token an Investoren verkaufen, meist gegen Kryptowährungen. Im Fall Envion sammelten die Gründer über ein ICO den Gegenwert von mehr als 100 Millionen US-Dollar ein, um ein mobiles Krypto-Mining-Projekt zu finanzieren. Am Ende scheiterte das Projekt und die Investoren klagten auf Schadensersatz, da sie sich durch unzureichende oder falsche Informationen im Prospekt getäuscht fühlten. Die gerichtliche Aufarbeitung des Falles, zuletzt mit einer Entscheidung des BGH zur Frage des anwendbaren Rechts, berührt eine Reihe offener Fragen bezüglich der Haftung beim ICO.
Mit der Verabschiedung der Markets in Crypto-Assets Regulation (MiCAR) auf europäischer Ebene gibt es mittlerweile neue rechtliche Rahmenbedingungen für Krypto-Assets und damit auch ICOs, die auch auf Prospektanforderungen und Haftungsfragen Einfluss haben. Dennoch bleiben noch viele, auch grundlegende, Fragen offen.
Anwendbarkeit deutschen Rechts beim ICO
Ein zentraler Streitpunkt im Envion-Fall war die Frage, ob deutsches Recht überhaupt anwendbar ist. Diese Frage stellt sich bei allen ICOs, da die analogen Staatsgrenzen in der digitalen Welt verschwimmen. Das Kammergericht (KG) in Berlin und der Bundesgerichtshof (BGH) haben dies im Fall Envion bejaht, da die Beklagte Emittentin ihren Sitz in Deutschland hatte und die Investoren zudem, jedenfalls teilweise, aus Deutschland stammten. Die Gerichte stützten sich dabei auf die Rom-II-Verordnung der EU, welche festlegt, welches Recht bei außervertraglichen Schuldverhältnissen anzuwenden ist.
Das KG argumentierte, dass der Schaden jedenfalls in Deutschland eingetreten sei, da die Gelder der Investoren auf Wallets überwiesen wurden, die deutschem Recht unterliegen. Der BGH bestätigte diese Ansicht und argumentierte ferner, dass die enge Verbindung zu Deutschland auch durch die Vereinbarung deutschen Rechts im White Paper gestützt wurde. Auch bei internationalen ICOs kann also deutsches Recht zur Anwendung kommen, wenn ein hinreichender Inlandsbezug gegeben ist.
Allgemeine und spezialgesetzliche Prospekthaftung
Das deutsche Recht kennt zwei grundlegende Arten der Prospekthaftung: die vom BGH entwickelte allgemeine bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung sowie die vom Gesetzgeber geschaffene spezialgesetzliche Prospekthaftung nach dem Wertpapierprospektgesetz (WpPG) und dem Vermögensanlagegesetz (VermAnlG). Im Envion-Fall ging es um die Frage, ob die spezialgesetzlichen Regelungen anwendbar sind, da die ausgegebenen EVN-Token Genussrechte darstellten, für die grundsätzlich das VermAnlG Anwendung findet.
Das Gericht ließ die Frage, ob ein öffentliches Angebot im Sinne des WpPG oder VermAnlG vorlag, im Ergebnis offen und wendete stattdessen die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung. Dies erscheint zweifelhaft, da der Gesetzgeber mit den spezialgesetzlichen Normen einige Regelungen geschaffen hat, welche bei ihrem Eingreifen der allgemeinen Prospekthaftung vorgehen, sodass das Gericht die Frage hätte entscheiden müssen.
White Paper als Prospekt
Ein weiterer Dreh- und Angelpunkt im Envion-Fall war die Frage, ob das White Paper als Prospekt im Rechtssinne anzusehen ist. Das KG bejahte dies und liegt damit auf der Linie der Rechtsprechung des BGH, der einen sehr weiten Prospektbegriff vertritt. Danach kann grundsätzlich jedes informelle Dokument wie ein White Paper dann als Prospekt gelten, wenn es die wesentlichen Informationen für die Anlageentscheidung der Investoren enthält.
Im Envion-Fall fehlten im White Paper Hinweise auf den Darlehensvertrag mit Wandlungsoption, der den Gründern die Möglichkeit gab, 81 % der Anteile an der Emittentin zu erwerben. Dies wurde als wesentlich vom Gericht erachtet und daher als Prospektfehler gewertet, da die Investoren ohne diese Information letztlich die Risiken des Investments nicht vollständig und richtig einschätzen konnten. Wie bei formellen Prospekten auch, müssen White Paper beim ICO sorgfältig und nach vergleichbaren Maßstäben erstellt werden und insbesondere alle relevanten Informationen enthalten, um eine Prospekthaftung zu vermeiden.
Haftung für Hintermänner nach Envion-Entscheidungen
Zu klären war zudem die Frage, ob die Gründer („Founder“) von Envion, die formal keine leitenden Positionen bei der Emittentin innehatten, als Haftende für Fehler des White Paper in Betracht kommen. Das Gericht qualifizierte im Ergebnis die Gründer als verantwortliche „Hintermänner“, da sie maßgeblich an der Entwicklung und Umsetzung des Projekts beteiligt waren und wesentliche Entscheidungen beeinflussten.
Diese Entscheidung ist nicht unumstritten, da sie die Haftung auf solche Personen ausweitet, die rechtlich gesehen bislang eigentlich nicht als Prospektverantwortliche gelten. Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte jedoch diese Sichtweise, was den Kreis der potenziellen Prospektverantwortlichen erweitert.
Offene Fragen zur Prospekthaftung bei ICOs
Trotz der Entscheidungen des Kammergerichts und des BGH zum Envion-Skandal bleiben im Ergebnis viele Fragen zur Prospekthaftung bei ICOs weiter offen. Dazu gehören:
- Wie weit reicht die Haftung von Hintermännern, die formal keine Prospektverantwortlichen sind?
- Inwieweit sind Spezialgesetze wie das WpPG oder das VermAnlG auf neue Anlageformen wie bei ICOs emittierte Token anwendbar?
- Welche Anforderungen müssen White Paper künftig erfüllen, um als Prospekt zu gelten und damit die Haftung wegen fehlenden Prospekts auszuschließen?
Die Einführung der gerade in Kraft getretenen MiCAR markiert insoweit einen bedeutenden Schritt zur Regulierung von Krypto-Assets und dürfte auch helfen, einige der bislang umstrittenen Fragen im Zusammenhang mit ICOs und der Prospekthaftung zu klären. Insbesondere ergeben sich daraus genauere Anforderungen im Hinblick auf die Informationspflichten für Emittenten von Krypto-Assets auch im Rahmen von ICOs, die dazu beitragen, Anleger besser zu schützen. Gleichzeitig schafft die MiCAR erstmals europaweit einheitliche Rahmenbedingungen, wodurch nationale Unterschiede minimiert werden, was jedenfalls im EU-Raum die Frage nach dem anwendbaren Recht entschärft.
Anderenfalls bleibt abzuwarten, wie effektiv diese neuen Regelungen in der Praxis sein werden, was auch von der Umsetzung durch die nationalen Gerichte und Aufsichtsbehörden abhängen wird.
Lehren für die ICO-Praxis
Der Envion-Skandal hat gezeigt, dass die Prospekthaftung bei ICOs auch in Zukunft ein komplexes und rechtlich umstrittenes Thema bleiben wird. Die neuen Regelungen durch die MiCAR schaffen insoweit für die Zukunft mehr Klarheit. Für Anleger bleibt es wichtig, sich nicht blenden zu lassen und genau zu prüfen, ob alle relevanten Informationen für das Investment vorliegen und das White Paper den formalen Anforderungen genügt. Die Entwicklungen in der Rechtsprechung zur Prospekthaftung bei ICOs werden auch in Zukunft von großer Bedeutung für die Strukturierung von ICOs und die Erstellung von White Paper sein.