EuGH-Urteil zu Leiharbeitsunternehmen in der EU

Welches Recht gilt für Arbeitnehmer in Leiharbeit?

Veröffentlicht am: 04.07.2021
Von: ROSE & PARTNER Rechtsanwälte Steuerberater
Lesedauer:

Ein Beitrag von Dott.ssa Elisa Calligaris und Rechtsanwalt Dott. Francesco Senatore, Rechtsanwalt in Deutschland und Italien 

zum Urteil von dem Gerichtshof der Europäischen Union vom 3. Juni 2021 (C-784/19 – „TEAM POWER EUROPE“ EOOD)

In der Sache „Team Power Europe“ EOOD hat der Europäische Gerichtshof erklärt, dass ein Leiharbeitsunternehmen einen nennenswerten Teil seiner Tätigkeit der Überlassung von Arbeitnehmern für entleihende Unternehmen verrichten muss, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats niedergelassen und dort tätig sind, um als „gewöhnlich tätig“ in diesem Mitgliedstaat angesehen werden zu können. 

Hintergrund: Bulgarischer Leiharbeiter in Deutschland tätig

Team Power Europe ist ein Leiharbeitsunternehmen bulgarischen Rechts, das seine Tätigkeit sowohl in Bulgarien als auch in anderen Ländern ausübt. Im Jahr 2018 schloss sie einen Arbeitsvertrag mit einem bulgarischen Staatsangehörigem, aufgrund dessen der Arbeitnehmer vom 15. Oktober bis 21. Dezember 2018 unter Leitung und Aufsicht eines deutschen Unternehmens seine Arbeit zu verrichten hatte. 

Frage: Geltung bulgarischen Rechts?

Team Power Europe war der Ansicht, dass die bulgarischen Rechtsvorschriften während des Zeitraums der Überlassung des Arbeitsnehmers anzuwenden sein sollten; sie beantragte bei der Einnahmeverwaltung der Stadt Varna die Ausstellung einer A1-Bescheinigung, mit der bescheinigt werden sollte, dass die bulgarischen Normen anwendbar seien. Jedoch wurde der Antrag abgelehnt, weil der Fall nicht in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1. der Verordnung n. 883/04 fiel.

Art. 12 Abs. 1 sieht nämlich vor, dass „eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit  24 Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst“. Gründe der Ablehnung waren, dass zum einen die Bindung zwischen Team Power Europe und dem Arbeitnehmer nicht aufrechterhalten worden sei und zum anderen das Unternehmen keine nennenswerte Tätigkeit in Bulgarien ausübte. 

Bulgarisches Gericht ruft EuGH an

Team Power Europe erhob eine Klage vor dem „Administrativen sad Varna“, d.h. vor dem Verwaltungsgericht Varna (Bulgarien), das beschloss, den Europäischen Gerichtshof anzurufen und nach den maßgebenden Kriterien zu fragen, die zu berücksichtigen sind, um zu beurteilen, ob ein Leiharbeitsunternehmen im Sinne von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009, durch den Art. 12, Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 präzisiert wird, andere „nennenswerte Tätigkeiten“ als „reine interne Verwaltungstätigkeiten“ im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats seines Sitzes ausübt. 

Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 sieht vor, dass „bei der Anwendung von Art. 12 Absatz 1 der Grundverordnung beziehen sich die Worte ‚der gewöhnlich dort tätig ist‘ auf einen Arbeitgeber, der gewöhnlich andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen niedergelassen ist, ausübt, unter Berücksichtigung aller Kriterien, die die Tätigkeit des betreffenden Unternehmen Kennzeichnen; die maßgebend Kriterien müssen auf die Besonderheiten eines jeden Arbeitgebers und die Eigenart der ausgeübten Tätigkeiten abgestimmt sein“.

Urteil des EuGH: Merkmale eines Leiharbeitsunternehmens

Der Europäische Gerichtshof hat als Große Kammer - 15 Richter - entschieden. Der Europäische Gerichtshof bestimmt als Große Kammer nur dann, wenn es von einem Mitgliedstaat oder von einer beteiligten Institution beantragt wird und die vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt werden. 

In seinem Urteil hat der Europäische Gerichtshof die Tragweite des Begriffs des Arbeitsgebers, der in einem Mitgliedstaat „gewöhnlich tätig ist“ erläutert.  Zunächst hat er eine wörtliche Auslegung des Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgenommen und die Merkmale eines Leiharbeitsunternehmens festgestellt. Ein Leiharbeitsunternehmen ist dadurch gekennzeichnet, dass es eine Vielzahl von Tätigkeiten ausübt, die in der Auswahl, der Einstellung und der Überlassung von Leiharbeitnehmern an entleihende Unternehmen bestehen.

Obwohl die Tätigkeiten der Auswahl und der Einstellung von Leiharbeitern nicht als „reine interne Verwaltungstätigkeiten“ qualifiziert werden können, ist die Ausübung dieser Tätigkeiten in dem Mitgliedstaat, in dem das Unternehmen ansässig ist, nicht ausreichend, um annehmen zu können, dass es dort „nennenswerte Tätigkeiten“ ausübt. Nämlich dienen diese Tätigkeiten zur späteren Überlassung des Leiharbeiters an entleihende Unternehmen. 

Hinweis: Ausnahme bestätigt die Regel

Des Weiteren hat der Europäische Gerichtshof darauf hingewiesen, dass Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 eine Ausnahme von der allgemeinen Regel darstellt. Der Fall, dass ein Arbeitnehmer, der zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, weiterhin den Normen des ersten Mitgliedstaates unterliegt, ist nur eine Ausnahme.

Die Regel ist, dass die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates gelten, in dem eine Person beschäftigt ist. Daher kann diese Ausnahme nicht auf ein Leiharbeitsunternehmen angewandt werden, das in dem Mitgliedstaat, in dem es seinen Sitz hat, in keiner oder in zu vernachlässigender Weise Leiharbeitnehmer an dort ansässige entleihende Unternehmen überlässt.

Bedeutung des Urteils 

Die Ausnahme, die im Art. 12 Abs. 1 Verordnung Nr. 883/2004 enthalten ist, kann nicht von Leiharbeitsunternehmen beansprucht werden, die die Tätigkeit der Überlassung von Arbeitnehmern ausschließlich oder hauptsächlich auf einen oder mehrere andere Mitgliedstaaten als den ihres Sitzes ausrichten.

Eine gegenteilige Lösung könnte dazu führen, dass Leiharbeitsunternehmen ihren Sitz in den Mitgliedstaat verlegen würden, der die günstigsten Rechtsvorschriften im Rahmen der sozialen Sicherheit hat (sog. „forum shopping“). Darüber hinaus könnte diese Lösung auf Dauer eine Verringerung des von den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten vorgesehenen Schutzniveaus sowie eine Wettbewerbsverzerrung zugunsten des Einsatzes von Leiharbeit gegenüber Unternehmen, die Arbeitnehmer selbst einstellen, verursachen.