Einsichtrecht Angehöriger und Erben in die Patientenakte
Man wird doch wohl mal fragen dürfen
Man wird doch wohl mal fragen dürfen
Ein Beitrag von Ralph Butenberg, Fachanwalt für Erbrecht und Steuerrecht in Hamburg
Regelmäßig kommt es nach einem Erbfall dazu, dass Angehörige Einsichtnahme in die Patienten- und Pflegeakten sowie die entsprechenden weitergehenden Dokumentationen bei Ärzten, Pflegeeinrichtungen und Krankenkassen begehren. Die Gründe hierfür sind ganz unterschiedlich, mitunter geht es um den Verdacht von Behandlungsfehlern und damit um potenzielle Schadenersatzansprüche, viele Angehörige wünschen sich indes Klarheit über die Erkrankung(en) des Verstorbenen und mögliche eigene Krankheitsrisiken aufgrund einer etwaigen genetischen Disposition. Derartige Krankheitsrisiken aufgrund genetischer Vorbelastung sind mittlerweile wissenschaftlich beispielsweise bei der Alzheimererkrankung erwiesen.
Beanspruchen der oder die Erben des Verstorbenen die Akteneinsicht, wird diese regelmäßig unproblematisch ermöglicht. Nahe Angehörige des Verstorbenen, die nicht Erben sind, haben es hingegen deutlich schwerer, die medizinischen Unterlagen ihres Vaters, ihrer Mutter, der Oma, des Bruders, ihres Kindes etc. einzusehen. Regelmäßig wird Nicht-Erben in der Praxis die Einsichtnahme in die medizinischen Akten von Verstorbenen verweigert. Dies trotz und entgegen der klaren Anweisung des Gesetzes.
Rechtsanspruch auf Akteneinsicht gemäß § 630g BGB
§ 630g Abs. 3 BGB bestimmt wörtlich: „Im Fall des Todes des Patienten stehen die Rechte aus den Absätzen 1 und 2 zur Wahrnehmung der vermögensrechtlichen Interessen seinen Erben zu. Gleiches gilt für die nächsten Angehörigen des Patienten, soweit sie immaterielle Interessen geltend machen. Die Rechte sind ausgeschlossen, soweit der Einsichtnahme der ausdrückliche oder mutmaßliche Wille des Patienten entgegensteht.“
Trotz des klaren Wortlautes des Gesetzes stellen wir in unserer Praxis vermehrt die Zurückweisung der Akteneinsichtsansprüche fest. Die Begründungen durch Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen oder Krankenkassen variieren hierbei. Regelmäßig wird die Frage relevant, ob denn der Akteneinsicht begehrende Angehörige, der nicht Erbe ist, tatsächlich immaterielle Interessen geltend machen möchte.
Machen nun nahe Angehörige Akteneinsichtsansprüche geltend, erfolgt mit schöner Regelmäßigkeit die Zurückweisung ihrer Ansprüche durch Arztpraxen oder Pflegeeinrichtungen mit dem Hinweis auf den Umstand, dass ja die Geltendmachung „materiell rechtlicher Ansprüche nicht ausgeschlossen“ sei.
Eigenes Prüfungsrecht des Arztes?
Steht also dem Arzt oder der sonstigen medizinischen Einrichtung ein eigenes Prüfungsrecht im Hinblick auf die Anspruchskonstellation zu und kann nach dem Gesetz der Arzt oder die Einrichtung insoweit selbst eine Entscheidung über die Berechtigung oder eben Nichtberechtigung des Angehörigen zur Akteneinsichtnahme treffen? Wir meinen nicht, obwohl die Rechtsprechungslage derzeit noch dünn ist.
Im Urteil vom 29.10.2015 (6 K 2245/14) entschied das Verwaltungsgericht Freiburg, dass bei der Geltendmachung immaterieller Interessen (beispielsweise die Prüfung strafrechtlicher Verantwortlichkeit des Behandlungspersonals oder die Geltendmachung von Schmerzensgeld) die Berechtigung zur Akteneinsicht gemäß 630 g Abs. 3 BGB bestehe. Einschränkend sei nur der ausdrücklich geäußerte oder mutmaßliche Wille des verstorbenen Patienten zu berücksichtigen, wonach im Fall eines entsprechenden entgegenstehenden Willens des verstorbenen Patienten die Einsichtnahme zu verwehren ist. Das Verwaltungsgericht Freiburg ging dem entschiedenen Fall in Ermangelung einer entsprechenden Äußerung des Patienten zu Lebzeiten davon aus, dass eine „Regelannahme“ zu Gunsten einer Akteneinsichtsberechtigung von Erben und nächsten Angehörigen bestehe (VG Freiburg aaO. unter Verweis auf OLG München, Urteil vom 09.10.2008, 1 U 2500/08). Das Verwaltungsgericht München stellte im Urteil vom 27.09.2016 (M 16 K 15.5630) klar, dass nur ganz ausnahmsweise („höchst ausnahmsweise“) entgegenstehende Rechte eines Arztes die Verweigerung der Akteneinsicht begründen können (zu einem solchen Fall etwa OLG Karlsruhe, Urteil vom 14.08.2019, 7 U 238/18).
Was meinen wir dazu?
Wir gehen davon aus, dass Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser etc. die Akteneinsicht der nächsten Angehörigen, die sich in ihren Akteneinsichtsbegehren ausdrücklich auf immaterielle Interessen beziehen, also beispielsweise das Vorliegen einer möglicherweise vererblichen Erkrankung prüfen möchten, nicht verweigert werden kann. Anderes gilt nur dann, wenn eine eindeutige Äußerung des Erblassers vorliegt oder aus den Umständen konkret gefolgert werden kann, dass der Erblasser seinen Angehörigen die Einsichtnahme in seine medizinischen Akten ausdrücklich nicht gewähren wollte. Ohne eine solche konkrete Einschränkung, die der Erblasser selbst zu seinen Lebzeiten verfügte oder nachweislich verfügen wollte, bestehen keine Einschränkungen der Akteneinsichtsrechte von nahen Angehörigen.
Die Entwicklung der Rechtsprechung ist derzeit in Bewegung, nicht zuletzt aufgrund der von uns angestrengten Verfahren. Wir werden an dieser Stelle weiter über relevante Entscheidungen berichten.
Sonderproblem Testierfähigkeit
Praxisrelevent ist die Einsicht in die Patientenakten vor allem auch in den Fällen, in denen aufgrund eines Testaments ein Erbschein beantragt wird, die Testierfähigkeit des Verstorbenen aber fraglich ist. Wurden durch das Testament zum Beispiel Angehörige als gesetzliche Erben enterbt und haben diese den Verdacht, dass der Erblasser aufgrund einer Demenzerkrankung gar nicht wirksam testieren konnte, spielt die Patientenakte eine wichtige Rolle bei der Prüfung der Testierfähigkeit.