Persönliche Haftung des Aufsichtsrats in der Krise

Notvorstand und Notgeschäftsführung des Aufsichtsrats!?

Aufsichtsräte sind insbesondere in der Krise der Gesellschaft gefordert. Die zusätzliche Arbeit ist dabei meist das kleinere Problem. Viel größer sind die zusätzlichen Haftungsrisiken der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder.

Veröffentlicht am: 20.11.2024
Qualifikation: Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht
Lesedauer:

Das Aktiengesetz sieht zwischen Aufsichtsrat und Vorstand der Aktiengesellschaft (AG) eine strikte Aufgabentrennung vor: Der Vorstand leitet die Geschäfte der Aktiengesellschaft. Der Aufsichtsrat kontrolliert die Geschäftsleitung durch den Vorstand. Eigentlich relativ einfach. Eine aktuelle Entscheidung des LG München I (Urteil vom 23.5.2024, Az. 5 HK O 7237/23) zeigt, dass bei einer Verletzung dieser Kompetenzordnung Haftungsgefahren für den Aufsichtsrat drohen.

Klage gegen Aufsichtsrat 

In dem Fall war ein ehemaliges Mitglied des Aufsichtsrats einer börsennotierten Aktiengesellschaft auf Schadensersatz in Höhe von 1,2 Millionen EUR verklagt worden. Daneben sollte das betreffende Aufsichtsratsmitglied alle Schäden ersetzen, die der AG aus der Stellung eines Insolvenzantrages entstanden waren. Der Beklagte war der ehemalige Vorsitzende des Aufsichtsrats der AG. 

Die betreffende AG befand sich seit längerer Zeit in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Der Vorstand der AG, der nur aus einer Person bestand, führte in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von Gesprächen mit Gläubigern und Investoren. Aus akuten gesundheitlichen Gründen musste der Vorstand der AG das Amt niederlegen. Wenige Tage nach Amtsniederlegung sah sich die AG einer weiteren Gläubigerforderung in Höhe von 13 Millionen EUR ausgesetzt. Der Aufsichtsratsvorsitzende übernahm in dieser Situation ad hoc die laufenden Gespräche mit den Gläubigern und Geschäftspartner. Dies auch deshalb, weil ein Ersatzvorstand innerhalb weniger Tage nicht gefunden werden konnte. Wenige Tage später stellte ein Gläubiger der Gesellschaft einen Insolvenzantrag. Die vom Aufsichtsrat übernommenen Gespräche mit den Investoren scheiterten hiernach.

Die gescheiterten Investorengespräche waren sodann Anlass für die Klage gegen den ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden; er wurde persönlich für das Scheitern in Haftung genommen. Um es vorwegzunehmen: Der Aufsichtsrat musste trotz diverser Pflichtverletzungen nicht haften. Doch was hat ihn gerettet?

Amtsniederlegung, Notvorstand und Aufsichtsrat

Der Reihe nach: Der Aufsichtsrat sah sich zunächst mit der Situation konfrontiert, dass das einzige Vorstandsmitglied sein Amt niedergelegt hatte. Die AG war damit „führerlos“. Was hätte der Aufsichtsrat hier tun können? Nun, zum einen hätte die Möglichkeit bestanden, auf der Grundlage von § 85 AktG einen sogenannten Notvorstand beim Amtsgericht zu bestellen. In § 85 Abs. 1 AktG heißt es:

„Fehlt ein erforderliches Vorstandsmitglied, so hat in dringenden Fällen das Gericht auf Antrag eines Beteiligten das Mitglied zu bestellen.“

Im Fall des LG München hatte der Aufsichtsrat indes keinen entsprechenden Antrag bei Gericht gestellt. Womöglich gab es in der Kürze der Zeit schlichtweg keine geeigneten Kandidaten. Wer möchte schon ein arg kriselndes, vor der Insolvenz stehendes Unternehmen führen?

Ersatzvorstand, Notbestellung und Aufsichtsrat

Es hätte jedoch eine weitere, oft unbekannte Möglichkeit für den Aufsichtsrat gegeben, die vorstandslose AG wieder handlungsfähig zu machen. So sieht § 105 Abs. 2 AktG vor:

„Nur für einen im Voraus begrenzten Zeitraum, höchstens für ein Jahr, kann der Aufsichtsrat einzelne seiner Mitglieder zu Stellvertretern von fehlenden oder verhinderten Vorstandsmitgliedern bestellen.“

Mit anderen Worten: Für eine begrenzte Zeit kann ein Aufsichtsratsmitglied temporär zum Vorstand bestellt werden. Auch diese Möglichkeit hatte der Aufsichtsrat im Fall des LG München I nicht genutzt. Womöglich bestand der Aufsichtsrat auch nur aus drei Personen, sodass die „Abordnung“ eines Aufsichtsratsmitglieds in den Vorstand zu einer Handlungsunfähigkeit des Aufsichtsrates geführt hätte.

(Keine) Geschäftsführung durch den Aufsichtsrat

Der Aufsichtsrat nutzte keine der vorgenannten Handlungsoptionen (Notvorstand, Notbestellung eines Aufsichtsratsmitglieds). Stattdessen übernahm der Aufsichtsratsvorsitzende faktisch die Rolle und Aufgabe des Vorstandes. Der Aufsichtsratsvorsitzende selbst führte im Namen der AG die Gespräche mit den Investoren; er verhandelte für die AG.

Das Gericht sah hierin eine Pflichtverletzung des Aufsichtsratsvorsitzenden. Verhandlungen gehörten zum operativen Aufgabenbereich des Vorstandes und könnten nicht vom Aufsichtsrat oder von einem Mitglied des Aufsichtsrats wahrgenommen werden. Dies sei womöglich nur dann zulässig, wenn der Aufsichtsrat bzw. ein Mitglied des Aufsichtsrates hierfür eine „Mandat“ von dem allein zur Vertretung der AG nach außen berufenen Vorstand hätte. 

Der Beklagte hat als Aufsichtsrat die sich aus dem Aktiengesetz ergebende Kompetenzordnung zu beachten; überschreitet er diese, begeht er eine Pflichtverletzung. Vergleichsverhandlungen gehören zum operativen Aufgabenbereich des Vorstandes und können nicht vom Aufsichtsrat oder einem Mitglied des Aufsichtsrats wahrgenommen werden, solange es jedenfalls kein Mandat des allein zur Vertretung der Gesellschaft nach außen berufenden Vorstandsmitglieds gibt.

Pflichtverletzung des Aufsichtsrates nicht ursächlich für Schaden der AG

Obwohl das LG München I eine Pflichtverletzung des Aufsichtsrates bejahte, verneint es eine Haftung des Aufsichtsratsvorsitzenden. Es mangele schlichtweg an der Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den geltend gemachten Schaden. Die AG habe nicht bewiesen, inwieweit die gescheiterten Investorengespräche die Insolvenz und die damit verbundenen „Schäden“ verursacht hätten.

Praxishinweis für AG und Aufsichtsrat

Der Fall ist ein gutes Beispiel für die unangenehmen Situationen, in die sich Mitglieder eines Aufsichtsrates, an erster Stelle der Aufsichtsratsvorsitzende, bringen können, wenn die Aktiengesellschaft führungslos ist. Für den Aufsichtsrat muss die Handlungsfähigkeit des Vorstands oberste Priorität haben. Hierfür bietet das Gesetz mit dem gerichtlich bestellten Notvorstand und dem temporären Aufrücken von Aufsichtsratsmitgliedern in den Vorstand Handlungsinstrumente. Diese sind auch zu nutzen. In keinem Fall sollte sich der Aufsichtsrat einfach zum Vorstand aufschwingen.

Und wenn der Aufsichtsrat dies tatsächlich einmal tut, so sollte er - so jedenfalls das LG München I - hierfür zumindest ein Mandat vom Vorstand haben. Ob die Sache mit dem Mandat den Aufsichtsrat vor einer Haftung schützt, ist indes fraglich. Denn es bleibt dabei: Der Vorstand soll führen. Der Aufsichtsrat soll kontrollieren.